Time flies when you´re having fun or ADHD – warum mangelndes Zeitgefühl Eltern mit ADHS das Leben schwer macht

Ich habe absolut kein Zeitgefühl. Man könnte sagen, ich sei völlig aus der Zeit. Das ist nicht einfach so mein persönliches Problem, sondern das von Menschen mit AD(H)S. Unser Frontallappen, der Teil des Gehirns, der für das Zeitgefühl zuständig ist, ist kleiner als bei neurotypischen Menschen. Das bedeutet die neuronale Tätigkeit darin ist schwächer und unser Zeitgefühl leidet darunter. Das wirkt sich extrem auf meinen Alltag als Mama aus.

An einem normalen Morgen unter der Woche sieht mein Plan in etwa so aus. 5.15 Uhr aufstehen, Kaffee trinken, Lesen, Yoga oder eventuell arbeiten, weil ich gerade eine tolle Idee hatte und dann um 6.10 muss ich beginnen die Pausenbrote zu schmieren. 6.30 die ersten beiden Kinder wecken, 6.45 das dritte und zwischendrin all die kleinen Tätigkeiten, die anstehen bevor ein Kleinkind, ein Grundschulkind und ein Teenager morgens das Haus verlassen.

Ja, das ist bei fast allen Eltern so. Ich habe nicht mehr Aufgaben als die anderen. Mein Problem ist ich verliere mich darin, habe keinerlei Bewusstsein dafür, wie die Zeit vergeht und übersehe wie spät es schon ist.

Ich löse das für mich mit unzähligen Handyweckern, die ich einstelle und die mich dann jedes Mal abrupt aus meinen Gedanken und Tätigkeiten reißen, und mich daran erinnern, dass jetzt etwas Anderes zu tun ist.

„Na, dann steh doch einfach mal früher auf…“

Ein Großteil vom Leben als Erwachsene mit ADHS besteht aus dem Gefühl von Unverstandensein und daraus resultierendem Scham. Das Gefühl kläglich zu versagen ist ein unliebsamer Vertauter. Ständig komme ich zu spät, übersehe Termine und kann Deadlines schwer oder nicht einhalten.

Die Reaktionen von anderen darauf sind in unterschiedlicher Ausführung wie Augenrollen oder strafenden Blicken oder verbaler Maßregelung vorwiegend negativ. Klar, manchmal begegnet man mir auch mit Verständnis (aber wenn ich ehrlich bin ist das die Ausnahme). Und auch nach all den Jahren, trifft mich das noch.

Seit ich weiß, dass es einen Grund hat, dass ich so bin wie ich bin und mit all diesen Dingen so struggle ist es zwar wesentlich besser, aber trotzdem nicht leicht. Allzu oft bekomme ich zu spüren, dass Leute denken ich nutze „dieses ADHS“ als Ausrede, als Ass im Ärmel um mich zu drücken, um eine „“Extrawurst“ zu bekommen, für mich oder meine betroffenen Kinder.

Fakten, Fakten, Fakten…

Fakt ist aber, Nein, es hilft mir nicht „Dann einfach mal früher auf zu stehen“. Ich stehe schon eine Stunde früher auf als eigentlich nötig sein sollte. Ich könnte auch um drei Uhr morgens aufstehen und würde trotzdem in meinem Buch versinken, beim Broteschmieren in Gedanken abtauchen oder beim kurzen Blick aufs Handy plötzlich noch 50 andere Sachen googlen und lesen und dann übersehen die Kinder zu wecken.

Auch „Du musst Dir deine Termine halt immer gleich aufschreiben!“ hilft mir nicht weiter. Ich will die Leute am liebsten schütteln und schreien „Denkst Du wirklich, auf die Idee bin ich noch nicht gekommen!?“ Ein Großteil meines Tages besteht darin Termin in Kalender einzutragen. Das ändert nichts daran, dass ich sie dann oft falsch eintrage, falsche Uhrzeit, falscher Tag oder sie erst 5 Minuten vorher wieder bemerke und dann keine Chance mehr hab Pünktlich zu kommen.

Mein Sohn kann ein Lied davon singen, wie es ist, wenn ich 10 Minuten vorm Physiotermin zu dem er 10 Minuten mit dem Rad fahren muss panisch anrufe und ihm sage, dass er jetzt sofort los muss. Mein Handykalender hat „10 Minuten“ vorher erinnern als Grundeinstellung und meist vergesse ich beim Termin erstellen, das auf eine Stunde vorher zu setzen. Oder mein Handy liegt einfach sonst wo, während ich mit etwas anderem beschäftigt bin und ich bekomme es gar nicht mit, dass eine Erinnerung aufploppt.

Ein langer Weg

Seit ich mich so intensiv mit ADHS und den Auswirkungen auf meinen Alltag mit Kindern beschäftige, geht es mir immer besser und besser damit. Trotzdem bin ich wie gesagt null immun gegen die Blicke, die Kommentare, das Bagatellisieren meiner Symptome und der Bezichtigung „Wenn es mir wichtig wäre, würde es sicher klappen“

Nein, so einfach ist das nicht. „Einfach nur“ mal wo anrufen, „Einfach nur“ pünktlich losgehen, „Einfach nur“ Termine sorgfältiger notieren und jeden Morgen kontrollieren, was ansteht. Das ist für mich und andere Menschen mit ADHS nicht einfach.

Und was es noch viel weniger „einfach“ macht ist die ebenfalls zum ADHS gehörende starke Empfindlichkeit gegenüber Kritik. Bei neurotypischen Menschen wird diese durchs neuronale Netz abgefiltert. Dies hat den Sinn, dass man sich eben nicht davon abbringen lässt Sachen durchzuziehen, die man geplant hat und die nötig sind.

Zum Verzweifeln
ADHS und seine Special Features kann einen manchmal zum Verzweifeln bringen

Menschen mit ADHS weisen eine sogenannte „Rejection Sensitivity Dysphoria“ auf, ein extrem sensibles reagieren auf Ablehnung und Kritik anderer. Diese in Kombination mit unseren ohnehin vorhanden Konzentrationsproblemen hält uns oft davon ab Sachen zu Ende zu bringen, aus Angst davor wie das Ergebnis von außen aufgenommen wird.

Das wiederum bedeutet, dass wir uns doppelt schlecht fühlen. Einerseits haben wir versagt, in dem wir das uns gesteckte Ziel nicht erreicht haben und andererseits erfahren wir dadurch negatives Feedback von außen.

Scheuklappen ab und Brust raus

Sich damit auseinanderzusetzen und einzugestehen, dass es so ist, ist tatsächlich die halbe Miete. Gnädig mit sich selbst zu sein ist etwas, dass nicht nur neurodivergente Eltern lernen dürfen, aber wir eben ganz besonders!

Strategien abseits von Deloreans und Doc Brown

Da Marty und Doc Brown gerade nicht greifbar sind (Popkulturreferenz von jemand aus den Endsiebzigern, also wenn Du Dir jetzt denkst…HÄ??? Da wir keine Zeitmaschine haben…) müssen wir für uns selbst Strategien finden, die funktionieren (und manchmal klappt das dann und manchmal nicht, aber immerhin besser als tagtäglich wieder sehenden Auges ins Verderben zu laufen, ohne etwas zu än dern.

Also probiere aus, was Dir hilft. 1000 Handywecker wie bei mir, oder noch engere Strukturen mit eingebauten Belohnungen (feste Kaffee/Teepausen bereits in der Morgenroutine denn wir sind aufgrrund unseres Dopaminmangels immer auf der Suche nach „Treats „Leckerlis“ fürs Gehirn) Küchentimer (auch bekannt als Eieruhr ;-)) ) whatever works for you.

Wichtig ist, ergib Dich nicht in Dein vermeintliches Schicksal. Ja, es ist nichts „Einfach nur“ für uns, aber das bedeutet nicht, dass wir es nicht ein wenig besser für uns gestalten können.

Du weißt hier schon wieder die Hälfte von dem, was Du grad gelesen hast nicht mehr? Dann hör auch gern noch mal in die dazugehörige Folge meines Podcasts „Zeit zu wachsen!“ rein.

Wenn Du Dir Unterstützung im Elternalltag mit ADHS wünscht, melde Dich gern bei mir, um einen Termin für ein 1:1-Coaching zu vereinbaren. (Und tatsächlich habe ich bisher noch keinen einzigen Coachingtermin vergessen, wahrscheinlich, weil ich meine Arbeit so liebe 😉 )

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